„Der Patient ist kein Auto, das verschleißt“
Interview mit Dr. Dirk Tenzer, Gesundheitsökonom und Vorstand des Klinikums Oldenburg
Viele verschiedene Themen prägen momentan aktuelle Diskussionen im medizinischen Bereich. Besonders die Debatten um die Mindestbesetzung in der Pflege und die vernachlässigten Investitionsverpflichtungen der Bundesregierung stehen im Moment im Vordergrund. Aber auch die Herausforderung, Mitarbeiter auf den Weg in die längst überfällige Digitalisierung mitzunehmen, wird viel diskutiert. Digitales Zeitalter hin oder her – im Mittelpunkt der Medizin steht immer noch der Mensch – findet Dr. Tenzer, Gesundheitsökonom und Vorstand des Klinikums Oldenburg.
Immer wieder kommt es in Krankenhäusern zu Streiks wegen schlechter Personalausstattung. Wie kritisch ist die Personalsituation in den Krankenhäusern Ihrer Meinung nach?
Ich denke nicht, dass man die Situation als flächendeckend kritisch bezeichnen kann, sie wird es aber schnell werden. Es stimmt aber, dass wir eine angespannte Personalsituation in Krankenhäusern haben. Wir müssen mit allen Beteiligten, besonders mit den Gewerkschaften, zusammenarbeiten. Nur so können wir dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen für das Personal im Gesundheitswesen besser werden.
Wie stehen die Arbeitgeber zur Frage der Mindestbesetzung in der Pflege?
Die Mindestbesetzung in der Pflege ist inzwischen ein politisches Thema. Der Gesundheitsminister macht sich in der Bundesgesetzgebung dafür stark, in sogenannten pflegesensiblen Bereichen Personaluntergrenzen zu definieren. Mittlerweile sind die Selbstverwaltungspartner dabei, diese Untergrenze miteinander auszuhandeln. Wir sollten dieses Instrument zunächst ausprobieren und schauen, ob es den gewünschten Effekt hat. Zum jetzigen Zeitpunkt sollten wir keinen Bemessungsmaßstab für alle Krankenhäuser definieren, da dieser sehr schwer zu ermitteln ist und schnell eine gewisse Ungerechtigkeit abbilden kann. Dennoch müssen wir etwas für die Pflege tun. Allerdings ist die Pflegepersonalbemessung, wie sie ver.di derzeit stark propagiert, nicht unbedingt das geeignete Mittel, um die Probleme im Krankenhaus wirklich zu lösen. Hierzu muss die Finanzierung der Krankenhäuser und besonders der Pflege fair und sachgerecht werden.
Was denken Sie, woher werden die Pflegekräfte zukünftig kommen?
Sie werden zum größten Teil immer noch – so hoffe ich zumindest – aus unseren Ausbildungsbetrieben kommen. An der Entwicklung der letzten Jahre erkennt man schließlich, dass auf den Personalmangel durchaus reagiert wurde: Man hat zu Recht Ausbildungsstellen und neue Ausbildungsmodelle geschaffen, um den Bedarf an Pflegekräften in Zukunft zu decken. Gleichzeitig gibt es weiterhin Tendenzen, ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, um den derzeitigen Fachkräftemangel auszugleichen. Die zusätzlichen Ausbildungskapazitäten werden erst mit zeitlicher Verzögerung greifen. Deshalb ist es höchste Zeit, hier für noch mehr Nachwuchs zu sorgen.
Sie hatten eben erwähnt, dass der Bereich Pflege mittlerweile ein politisches Thema ist. Welche Maßnahmen würden Sie sich von der aktuellen Regierung wünschen?
Die neue Bundesregierung sollte es sich zur Aufgabe machen, für eine faire Krankenhausfinanzierung zu sorgen. Stattdessen schreibt sie momentan Strukturmerkmale fest, ohne sie zu refinanzieren, während gleichzeitig Kostensteigerungen unterfinanziert werden. Das ist ein Weg, den dieses Gesundheitssystem nicht mehr lange aushält. Die Bundesregierung und die Länder sind jetzt gefordert: Sie haben eine Investitionsverpflichtung und sollten endlich für Klarheit und für ein gutes, stabiles Gesundheitssystem in Deutschland sorgen.
Das Thema Digitalisierung ist momentan sehr prominent. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung Ihrer Meinung nach auf das Krankenhauspersonal?
Digitalisierung in der Krankenhausbranche muss man sich sicherlich anders vorstellen als in anderen Branchen in Deutschland: Wir sind teilweise noch sehr weit von der ersten Stufe einer Digitalisierung entfernt. Bei den meisten aktuellen Entwicklungen können wir noch nicht von 4.0 sprechen. In Krankenhäusern ist es beispielsweise noch nicht üblich, dass man sich als Patient seinen Termin über ein Onlineportal besorgt. Das gibt es vereinzelt, aber es ist immer noch nicht Standard. Wir sind noch sehr weit von der Digitalisierung entfernt – sicherlich auch, weil wir in der Vergangenheit nicht genug investiert haben. Das ist längst überfällig.
Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, unsere Beschäftigten mitzunehmen. Unsere Mitarbeiter sind teilweise bereits seit über 25 oder 30 Jahren im Gesundheitswesen tätig. Und jeder Einzelne von ihnen muss sich später in der neuen Arbeitswelt auch wiederfinden. Denn eins ist völlig klar, der Patient steht im Krankenhaus immer noch im Mittelpunkt. Und am Ende ist trotz aller Digitalisierung die menschliche Verbindung zum Patienten noch immer das Wichtigste, was wir leisten. Das gilt zum Beispiel für Pflegekräfte, aber auch für Ärzte und Aufnahmekräfte.
Welche Auswirkungen sehen Sie durch die Telemedizin in der Krankenversorgung?
Telemedizin macht verschiedenen Berufsgruppen immer noch Angst. Insbesondere den Ärzten, weil sie glauben, dass sie damit abgeschafft werden. Ich glaube aber, dass Telemedizin, so wie sie sich zurzeit entwickelt, eher ein Instrument ist, um mit den Patienten zu kommunizieren und sie zu behandeln.
Wir machen mit diesem Werkzeug nichts anderes, als die Arzt-Patienten-Interaktion auf dem digitalen Weg voranzubringen. Dies tun wir auf einer neuen Plattform. Schließlich ist man früher auch zunächst angerufen worden, wenn die Blutwerte da waren. Daraufhin wurde eine Therapie festgelegt. Dieser Vorgang ist schon seit vielen Jahrzehnten Telemedizin.
Heute haben wir darüber hinaus die Möglichkeit, durch Videotelefonie und Wearables anders auf den Patienten zuzugreifen, und der Patient anders auf uns. Aber im Grunde bleibt es bei einer Behandlung des Patienten durch den Arzt oder die Pflegekraft. Das ist Telemedizin – zumindest so, wie wir sie in den nächsten Jahren betreiben werden. Damit verändert sich die Interaktion mit dem Patienten, aber nicht die Behandlung an sich.
Die Software „Dr. Watson“ ist eine künstliche Intelligenz und kann eigenständig Untersuchungsergebnisse analysieren, Diagnosen stellen und Therapieformen vorschlagen. Sehen Sie eine Gefahr, dass Ärzte durch diese Software arbeitslos werden könnten?
Dass Ärzte bei dem Ärztemangel, den wir in Deutschland haben, in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten arbeitslos werden, glaube ich nicht. Auch Dr. Watson wird mit seiner – irgendwann vielleicht erreichten – Präzision nur dafür sorgen, medizinisches Handeln zu unterstützen. Die Software ist ein Werkzeug, mit dem man Therapieentscheidungen leichter treffen kann.
Ich glaube, dass wir zumindest in der nächsten Zeit noch Ärzte brauchen – um zu heilen, aber auch um Therapieentscheidungen zu treffen. Und wir brauchen vor allen Dingen die Pflegekräfte, damit sie sich um die Patienten kümmern.
Dr. Watson wird im ersten Schritt nur Hinweise geben können, in welche Richtung es geht. Und er wird dabei helfen, Diagnosen zu präzisieren und gegebenenfalls auch Therapieansätze zu finden. Wir werden durch das Programm aber auch noch aufgeklärtere Patienten bekommen. Das wird die Interaktion zwischen Arzt und Patient auf ein anderes Niveau heben, vielleicht auf ein gleicheres Niveau. Dennoch muss man natürlich aufpassen, dass der Patient dadurch nicht verunsichert wird.
Inwiefern könnte das Programm die Patienten verunsichern?
Es könnte Algorithmen geben, durch die man feststellen kann, dass der Patient mit ziemlicher Sicherheit in den nächsten sechs Monaten einen Herzinfarkt erleiden wird. Mit dieser Information müssen wir behutsam umgehen. Schließlich löst es aus Sicht des Patienten zunächst einmal Stress aus, wenn er weiß, dass er im nächsten halben Jahr einen Herzinfarkt bekommt. Hier stellt sich die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit dieser eintritt und was man dagegen tun kann. Diese Unsicherheit kann durch eine Untersuchung bei einem Kardiologen genommen werden. Findet der Facharzt nichts Behandelbares bei dem Patienten, bleibt die Unsicherheit beim Patienten bestehen.
Wir müssen an der Stelle lernen, mit diesen neuen Möglichkeiten und der scheinbaren Intelligenz umzugehen. Diese Intelligenz beruht auf Statistiken. Wenn der Kardiologe bei der Untersuchung Entwarnung gibt und das Risiko eines Herzinfarkts laut der Untersuchung niedrig ist, muss der Patient Ruhe finden dürfen. Wichtig ist, dass er nicht permanent an einen eventuell drohenden Herzinfarkt denkt, der in den kommenden sechs Monaten auftreten könnte.
Es geht immer noch um den Menschen und nicht um ein Auto, das verschleißt und bei dem man Ersatzteile auswechseln kann. Viele Patienten sind aufgeklärt und fragen ganz dezidiert nach. Sie fragen auch ausdrücklich nach der geeigneten Therapieform. Daran mussten Ärzte sich gewöhnen. Mit der Digitalisierung wird es in der Gesundheitsbranche eine Fülle neuer Möglichkeiten geben. Diese werden Ärzte und Pflegekräfte unterstützen, aber nicht komplett ersetzen.
Dr. Dirk Tenzer war nach dem Medizinstudium lange Jahre am Universitätsklinikum Bonn als Arzt und Gesundheitsökonom sowie stellvertretender Vorstand tätig. Seit Anfang 2013 ist er Vorstand des Klinikums Oldenburg. Er ist Mitglied und Vorsitzender des Gruppenausschusses für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen der VKA und des KAV Niedersachsen.